Buchkritik: Im Teufelskreis der Lust von Ingo Schymanski
Auf dieses Buch bin ich ebenfalls, wie schon auf ‘Potatoes not Prozac’ von DesMaisons, in Silke Rosenbuschs Blog aufmerksam geworden. Die Thematik ist ähnlich wie vorgenanntes Buch: Das Hormonsystem und die Belohnungsfalle. Und das ist eine Sache die ich gerne verstehen möchte – also warum (andere) Menschen von Sachen nicht lassen können die Ihnen offensichtlich nicht gut tun.
Im Kontrast zu Frau DesMainsons, welche auf die Zuckersensitivität fokussiert, stellt der Arzt und Psychotherapeut Ingo Schymanski hier sein Habituations-(Gewöhnungs-)modell zum Regelkreislauf unseres Belohnungssystems mit Fokus auf die Botenstoffe Dopamin und GABA vor. Er versucht dabei ein Erklärungsmodell für die Ursache vieler andere Krankheiten und Symptome wie z.B. Esssucht, Ängste, AHDS, Hyperaktivität, Konzentrations-, Gedächtnis-, Impulskontroll- und Schlafstörungen, Rückenschmerzen, Burnout und Depression, etc. zu schaffen.
Letzteres war für mich der zweite Grund das Buch zu lesen: Um das Neurotransmittersystem (und wie es uns ‘kontrolliert’) besser zu verstehen.
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Der Dopamin-GABA Zyklus nach Schymanski
Seine Kern-These, so wie ich Sie verstanden habe: Durch die heute leicht zu erreichende Überstimulation mit Essen, TV, Computerspiele, Informationen (Facebook, WhatsApp, Internet, etc.), verschiedensten Aktivitäten und anderen Stimulanzien (Drogen in jeder Form – also auch Zucker, Fett, Alkohol, etc.) wird unser Belohnungssystem überfordert – denn dieses System ist (bzw. war) für eine Umwelt gedacht die nur sehr wenige Stimuli kannte.
Wird das Belohnungssystem nun aber immer mehr bzw. dauernd stimuliert, dann kommt es zu einem Wirkverlust (des Dopamin). Meint: Das, was früher noch viel Wohlgefühl ausgelöst hat scheint heute fade. Man nennt das den Gewöhnungseffekt – die Habituation.
Nach Schymanski führt jeder Versuch, den Wirkverlust von Botenstoffen am Belohnungszentrum wieder zu erhöhen immer tiefer in die Habituation und den Teufelskreis aus Lustverlust und gleichzeitig gesteigerter Bedürftigkeit (Seite 12). Das ganze hat nun aber Folgen. Schymansiki:
“Wenn die Nervenzellen des Belohnungssystems nicht mehr stimuliert werden können, vermindern sich aber auch Ihren Ausstoß des beruhigend wirkenden Transmitters GABA. Ohne die dämpfende Wirkung von GABA aber gerät der Gesamtorganismus in den bereits erwähnten psychovegetativen und psychomotorischen Erschöpfungszustand“.
Durch den fehlenden GABA-Ausstoß kommt es oft zu einer inneren Unruhe die dann durch Tätigkeiten bekämpft werden, welche noch weiter in die Erschöpfung führen. Ein Teufelskreislauf.
Immer häufiger, immer doller, immer verrückter…
immer dringlicher, Stimulanzien, Drogen & der Vergleich – so setzt sich nach Schymanski oft die Strategie der Menschen fort um dem Belohnungssystem doch noch den nächsten Kick zu entlocken. Durch zunehmende GABA-Mängel aber kommen die betroffenen immer mehr in einen Erschöpfungszustand, der letztendlich in die Depression führen kann. Dies insb. wenn durch eine Gratifikationskrise das Dopamin nicht mehr auf den NAC wirken kann.
Symptome und Erschöpfung
Da Ruhephasen (und ggf. Ausgleich durch emotionalen Rückhalt bzw. Bindung) fehlen erschöpft sich dieser Regelkreisklauf irgendwann (komplett). Es kann keine Lust mehr empfunden werden – nichts macht mehr Spaß, die Energie fehlt – und gleichzeitig kommt der Betroffene (durch GABA-Mangel) nicht mehr zur Ruhe, kann nicht mehr richtig Schlafen, etc. pp – das Portfolio an möglichen Auswirkungen & (Stellvertreter-)Krankheiten wird im Buch aufgezeigt.
Der Botenstoff GABA ist aber noch für eine andere wichtige Sache notwendig: Neben dem Schlaf wirkt er auch entspannend auf die Muskeln. Bleiben letztere angespannt oder verkrampft, kann es mittelfristig zu Schäden durch Fehlhaltungen bzw. Fehlstellungen z.B. an der Wirbelsäule kommen. Die Chancen stehen durchaus hoch, das der Orthopäde der das dann diagnostiziert nicht die eigentlich Ursache – den GABA-Mangel und die dahinter liegende Symptomatik – ausmachen wird.
Weiterer Überblick des Buches
- Die Serotonin-Hypothese
- In Kapitel 2.4 wird auf die verschiedenen (existierenden) Modelle der Depressionsentstehung eingegangen. Diese werden dann u.a. im Kontext des Dopamin / GABA Ansatzes diskutiert.
- Warnsignal der Überstimulation: AHDS
- Danach folgt eine längere Diskussion von AHDS und seinen vermuteten Ursachen, sowie eine Diskussion von AHDS in Bezug auf das Habituationsmodell mit Dopamin und GABA. Ein Aspekt ist auch der Mangel an GABA und was er auslösen kann, sowie ein Vergleich mit anderen Kulturen (Amish), welche AHDS nicht kennen.
- Meine Meinung: Dieses Kapitel ist sicher für Eltern von Kindern mit AHDS sehr interessant.
- Stoffgebundene und stoffungebundene Süchte
- Diskutiert die häufigsten weichen und harten Drogen.
- Enthält eine längere Besprechung des Burnouts durch Überarbeitung, bei welchen sich die Dopaminvorräte erschöpfen und gleichzeitig die Entspannung (Anm: Wirkung von GABA) fehlt.
- Bricht in einer Krise auch die Gratifikation bzw. der Spaß an der Tätigkeit weg – so ist die Chance hoch das der Betroffene in eine Depression (Burnout) fällt. Es werden Symptome erläutert und Vorschläge für eine Bewältigungsstrategie gegeben.
- Stress: eine Theorie zu seiner Entstehung
- und in Kombination mit GABA.
- Körperliche Folgen
- Im Kapitel 3 wird dann auf die körperlichen Folgen des “Teufelskreis der Lust” eingegangen, wie z.B. Übergewicht, Herzinfarkt und Schlaganfall durch eine falsche zu hochkalorische und fett-reiche Ernährung – welche natürlich ebenfalls das Belohnungssystem stimuliert.
- Gesellschaftliche Folgen (Kapitel 4)
- Hier wird es nachdenklich und teils philosophisch. Es geht grundsätzlich um unsere Gesellschaft, Lebenssinn, Glück und Zufriedenheit mit anschließender Vertiefung in die Unterschiede des westlichen und fernöstlichen Denkens. Der Anfang schließt mit der Frage nach dem “was wir wirklich brauchen?”.
- Im Abschnitt “Glück und Lebenszufriedenheit subjektiv und objektiv” geht Herr Schymanski noch einmal tiefer auf die Wirkweise und die regulative Funktion von GABA und die Symptome der leeren Belohnungsspeicher der erschöpften Patienten ein, welche sich in seiner Sprechstunde offenbaren.
- Danach folgen eine Einführung in die Maslow-Pyramide mit der 8ten Stufe der Transzendenz. Schymanski stellt heutige Probleme u.a. darauf ab (S. 165) das die zivilisierten Menschen in den Industrienationen zunehmend an alle 7 Stufen der ursprünglichen Masow-Pyramide Habituiert sind. Eine Steigerung der Erlebnisintensivität bringt seiner Ansicht nach irgendwann keine Befriedigung mehr, so das vermehrt Ziellosigkeit und Sinnleere häufig zu beobachtenden Folgen sind.
- Interessant ist seine Formulierung zur Sinnfrage: “Sinn ist nichts weiter als ein Effekt von Botenstoffen” (S. 166) – und die Frage: “Welche Form der Existenz sichert dem Individuum wie dem Kollektiv das Optimum an Glücksbotenstoffen?”.
- Weiter geht es mit der Diskussion um (Lebens-)Sinn, Selbstzweck, sozialer Kontakte und die Freiheit des Willens. Auf letzteres formuliert er auf Seite 179 die These: “Neurophysiologisch betrachtet kann nach der Befriedigung der Grundbedürfnisse mit dem Verzicht auf Exzesse eine tatsächliche Freiheit des Willens entstehen” sowie “Sinnerfüllung, innere Harmonie und Ausgeglichenheit sind Botenstoffe”.
- Persönliche Konsequenzen für den Alltag (Kapitel 5)
- Hier werden verschiedene Tips von Herrn Schymanski gegeben, wobei er mit dem Start in den Tag, dem Frühstück, anfängt. Nach Ansicht von Schymanski setzt schon die Vielfalt der Nahrungsmittel den Teufelskreis der Lust in Gang, da jeder Genuss den wir uns gönnen durch Speicherentleerung (Botenstoffe) und Rezeptor-Down-Regulierung (Siehe auch Erklärung hier) den Teufelskreis verstärkt.
- Insb. weißt Schymanski hier auf schnelle Kohlenhydrate und die negativen Effekte von Kaffee hin – sowie ab Seite 190 auf E-Stoffe und Geschmacksverstärker.
- Danach kommen die Erholungsphasen die wichtig sind um die Speicher aufzufüllen. Ansonsten leeren sich die Speicher immer mehr und die Arbeit macht keinen Spaß (Dopamin) mehr. Erholung ist in diesem Kontext nicht Action-Urlaub sondern u.a. (absolute) Ruhe und Reizarmut (Natur).
- Dann Folgen die Unterkapitel Schlaf, Beziehungen, Sex, Kindererziehung (länger) – mit dem Hinweis auf die frühe Erfahrung der sicheren Bindung!
- Das Fazit schließt das Kapitel und der Autor weist noch einmal auf folgendes hin: “Hüte Dich vor Überstimulation”.
- Dann zählt er noch kurz einige Wege, die andere Menschen schon genommen haben, auf: Entschleunigung, Entschlackung (des Lebens), Verzicht auf Statussymbole, selber machen statt kaufen, Halbtagsstellen, etc. pp.
- Das Buch schließt mit einer kritischen Diskussion des Habituationsmodells und einem Fazit das eine Checkliste zur Entschleunigung enthält.
Raus aus der Lustfalle?
Was tut nun der Autor empfehlen für die Menschen die in der Erschöpfungs- bzw. Lustfalle gefangen sind? In der Kurzzusammenfassung sind dies: Weniger Konsum, weniger Fernsehen, mehr Natur, mehr natürliches Essen mit weniger Salz & Zucker, mehr bewusst Essen (ohne Lesen, ohne Fernsehen) und ggf. auch (zumindest vorübergehend) bei der Arbeit kürzer treten (Teilzeit, Auszeit) und ein paar andere Dinge – um überhaupt einmal wieder “Aufzutanken”. Dies, damit sich der Regelkreislauf aus Dopamin und GABA (sowie anderen Botenstoffen ala Adrenalin & Co.) wieder auf ein Normal regulieren kann.
Mein Fazit
Ich fand es (datamls) ein sehr gelungenes Buch, was mir in vielem aus der Seele gesprochen hat. Dieses auch (oder ggf. gerade) weil die hinteren Kapitel, nicht mehr so viel mit dem Habituationsmodell und der Biochemie zu tun hatten.
Insofern kann ich das Buch auch für Menschen, die nicht in einer Lustfalle gefangen sind (bzw. dieses von Sich meinen), zum Lesen durchaus empfehlen. Das Buch schärft die Wahrnehmung für das Kernthema und schafft Verständnis für die Situation der Betroffenen – in einer Zeit wo die Thematik der stoffgebundenen und stoffungebundenen Süchte und der Lebenssinn immer mehr Menschen um uns berührt.
Nachtrag: Nebenniere, NEM’s & HPU vergessen?
Schade fand ich es, das Schymanski nicht auf Nahrungsergänzungsmittel (NEM) eingeht, welche in dieser Situation, u.a. bei Schlafproblemen, ggf. helfen könnten. Dieses müssen keine komplexe Sachen sein – hier kann schon Magnesium vor dem zu Bett gehen helfen. Einfache Aminosäuren, z.B. GABA (-> ja, das kann man auch einnehmen), Pflanzen die GABA unterstützen (-> Baldrian, Passionsblume, Hopfen), 5-HTP (-> mehr Serotonin), Vitamin B12 (-> alles mögliche), Phosphatitylserin/Cholin-Varianten (-> u.a. Zell-Schutz von Neuronen), können (bei vorherigem starkem Mangel) ggf. ‘Wunder’ bewirken.
Alternativ ist oft eine HPU/KPU (Häm-Stoffwechselstörung) ein großer und problematischer Faktor, da es hier zum starken Verlust von Vitamin B6, Zink und ggf. Mangan kommt. Dann sieht es auf einmal auf sehr vielen Ebenen sehr schlecht aus – u.a. bei der Synthese von Dopamin, Serotonin und Melatonin, welche vermindert wird – aber auch bei der Entgiftung und dem ganzen Energiestoffwechsel. So haben sehr viele Menschen mit psychischen Problemen eine unerkannte HPU.
“Erschöpfte” Nebennieren können auch, je nach Problematik und Blutwerten, mit Hydro-Cortison und DHEA menschen-bioidentisch unterstützt werden. Älteren Semestern fehlt dann noch häufig Progesteron, wobei hiervon Männer und Frauen betroffen sind. Eine andere wichtige Thematik ist natürlich auch zu wenig Sonnenlicht, zu viel Kunstlicht und zu viel Mobilfunk & Co. (EMF) – speziell wenn schon andere Baustellen bestehen. Irgendwann läuft das Fass eben über…
Links / Quellen
- [1] Video von Herrn Schymanski: Im Teufelskreis der Lust – Dr. Ingo Schymanski über das menschliche Belohnungssystem (ca. 18 Minuten)
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